„Ich wollte ja nur schön spielen“

Franz-Josef Hürmann bezwang die amerikanische Legende Marty Reisman

VON GÜNTER THOMAS
Hamm – Das Spiel des Lebens?
„Puh, da muss ich erstmal überlegen. Ich habe so viele beste Spiele gemacht, so tolle Momente gehabt…“ Für Franz-Josef Hürmann gibt es dieses eine Match nicht. Für den ehemaligen Bundesligaspieler des TTC GW Bad Hamm ist das gesamte Leben ein einziges Tischtennisspiel. Gewissermaßen. Seine Biografie ist ohne den Sport mit dem – früher noch – kleinen weißen Zelluloid-Ball nicht denkbar.
Bevor er beginnt, in seinen Erinnerungen zu kramen, ist es Hürmann wichtig, eine Sache klarzustellen: „Ich habe meine besten und erfolgreichsten Spiele im Doppel an der Seite von Udo gemacht“, ist das GW-Urgestein Udo Lang ein lebenslanger Begleiter Hürmanns in Sachen Tischtennis. „Was Taktik anbelangt, hat er die Gegner viel besser gelesen als ich das jemals konnte. Wenn ich so abgewichst gewesen wäre, wäre ich viel weiter gekommen im Sport – aber ich wollte ja nur schön spielen…“

Lang war auch Hürmanns Doppelpartner in den Erstligazeiten des TTC GW Bad Hamm – im Abstiegsjahr 1989, als die Hammer der Konkurrenz hoffnungslos unterlegen waren, spielten beide gemeinsam die Weltklasseakteure auf der anderen Seite an die Wand. „Die Partien gingen in der Regel 9:1 für unsere Gegner aus – weil Udo und ich unser Doppel gewonnen haben.“
Aus dieser Saison erinnert sich Hürmann auch an ein Einzel gegen den damaligen WM-Dritten Andrzej Grubba. „Wir spielten in Grenzau, und der kannte mich gar nicht“, sagt Hürmann lachend. „Da hab ich  ganz gutaus gesehen in der Abwehr, und er hat Fehler gemacht. Dann hat er gemerkt, der kann mir ja mit seinem Brettchen ja gar keinen reinhauen, hat nur noch Ballonabwehr gespielt und mir die Bälle auf die weiße Linie gelöffelt. Der hatte schon so ein begnadetes Händchen.“

Brettchen – das war stets das Spielgerät des heute 70- jährigen pensionierten Lehrers – einfache Beläge, ein paar Noppen, fertig. Selbst die Konkurrenz irgendwann dazu überging, sogenannte Schwamm-Beläge zu spielen, bei denen die Spielfläche glatt war und dem Ball viel Schnitt geben konnte, blieb „Herzer“ bei seinem Belag. Der bescherte ihm die vielleicht intensivste Begegnung seines Sportlerlebens. Zumindest aber die mit einer der schillerndsten Persönlichkeit des Tischtennis-Zirkus: Marty Reisman. Reisman war von den späten 40er bis in die 60er Jahre der erfolgreichste amerikanische Tischtennis-spieler. Er nahm an sieben Weltmeisterschaften teil, bei denen er insgesamt fünf Bronzemedaillen gewann.
In den 70er Jahren lebte Hürmann in den USA. „Dadurch, dass meine Frau Debbie Amerikanerin war, hatte ich automatisch die Green Card, wurde als Amerikaner behandelt und durfte an den nationalen Meisterschaften teilnehmen“, erinnert sich Hürmann, der insgesamt fünf Jahre in den Staaten gelebt hat, ehe er nach Deutschland zurückkehrte. „Die fanden immer im Caesars Palace in Las Vegas statt. Und da kam die ganze US-Tischtennisfamilie zusammen.“
Es ist das wichtigste Turnier in den Staaten – eine Tischtennis-Liga für Mannschaftswettbewerbe gibt es in den USA bis heute nicht. Es gab dort verschiedene Kategorien, in denen gespielt wurde. Die A-Klasse (bis 2200
Leistungspunkte), die Hauptklasse und die so genannte „Hardbat“ – eine eigene Kategorie für Hartbrettspieler mit Noppen außen und ohne Schwamm. „Diese Kategorie haben die Veranstalter eigens für Reisman eingeführt“, erklärt Hürmann. „Der hatte sich irgendwann geschworen, dass er nie mehr gegen Spieler mit den neumodischen Schwammbelägen spielen würde, die damals aus Asien kamen und mit denen man dem Ball plötzlich Drall geben konnte, was vorher mit dem Brett nicht möglich war – und trat entsprechend nur noch gegen Hard-Rubber-Spieler an.“
Der damals bereits 48-Jährige galt in den Staaten als Legende, war mit dem „Brettchen“ in offiziellen Begegnungen ungeschlagen und hatte sich mittlerweile die Schrulle angewöhnt, ganz in Schwarz mit langer Hose, Rollkragenpullover und schräg aufgesetztem Barett an den Tisch zu treten.
1977 war Reisman aber zunächst gar nicht vor Ort. Als die Turnierleitung jedoch Hürmann spielen sah, reichte ein Anruf und das Versprechen für alle Reisekosten aufzukommen, um das Interesse des Champions zu wecken. vorne gespielt und war hin-

„Da ist einer, der dir gefährlich werden könnte“, erfuhr Reisman und machte sich auf nach Vegas.
Reisman wurde im Turnieran Position eins gesetzt, Hürmann an zwei – und es kam zum erhofften Finale zwischen den beiden. „Da waren über 600  Leute in der Halle, es gibt sogar Filmmitschnitte davon“, erinnert sich Hürmann an einige Details, von denen ihm eines das liebste ist: „Ich habe  ihn mit 3:0 geschlagen – tolle Sache. Die ganze Tischtennis-Familie lag mir  zu Füßen, weil sie den nicht ausstehen konnten.“
Auch in den beiden anderen ausgetragenen Klassen war Hürmann  erfolgreich unterwegs. Das A-Turnier gewann er ebenfalls, und in der Hauptklasse war in der Runde der letzten acht der amerikanische Nationalspieler Mike Bush Endstation. „Ich hatte über 1000 Dollar Preisgeld bekommen, das war nicht schlecht“, freute sich der in Westtünnen  geborene Hammer. Die Niederlage ließ Reisman, der als „Tischtennis- Gambler“, als Zocker, bekannt war, nicht los. „Er hat sich über meine  Spielart beschwert, weil ich trotz Brett mit viel Schnitt agieren konnte“, sagt Hürmann. „Das hatte er erst überhaupt nicht kapiert. Dann hat er sich  immer besser auf mich eingestellt, hat nicht mehr so hart nach vorne  gespielt und war hin-terher in der Lage, mit meinem Schnitt umzugehen. Und der dritte Satz war mit 21:19 schon knapp. Wenn er den gewonnen  hätte, wäre es hinten heraus ganz eng geworden. Daran, wie er sein Spiel umgestellt hat, lässt sich erkennen, was für ein Weltklassespieler er war.“

Nach der Partie ging Reisman also auf den blonden Deutschen zu und lud  ihn nach New York ein. Dort hatte er in den Katakomben eines Hotels einen Raum angemietet, in dem er Spiele um Geld bestritt. „Gambling – das war sein Thema“, so Hürmann.
„Vorne wurde Tischtennis gespielt und im Hinterstübchen gepokert.  Nebenbei soll er auch Gold geschmuggelt haben. Dann sagte er zu mir:  Franz, you played a fanstatic match – komm zu mir nach New York, und du bestimmst den Wetteinsatz. Das war ein Typ, der bei 19:19 unten aus dem  Strumpf einen 100 Dollar-Schein rausgeholt und unters Netz gelegt hat. Dann hat er gewartet, bis du auch 100 hingelegt hast – vorher ging es nicht  weiter.“ Hürmanns 100 Dollar blieben im Strumpf. „Denn bei ihm zuhause hätte ich niemals gewonnen“, ist er sich sicher.

Jahre später traf der Hammer mit seinem Sohn Noel noch einmal im Doppel auf den amerikanischen Altmeister.
„Bei den offenen amerikanischen Meisterschaften war das“, erinnert sich der zweifache Vater und sechsfache Großvater. „Noel hat nur angegriffen und ich abgewehrt – da haben wir die aber fürchterlich verhauen.“
Vor ein paar Jahren hat es sich Hürmann angewöhnt, zu Welt- und Europameisterschaften „der alten Säcke“ (Hürmann) mit dem Fahrrad anzureisen. Sein erster EMStart im finnischen Tampere in der Ü65-Klasse  endete mit einer Niederlage gegen seinen langjährigen Weggefährten aus Bundesligazeiten, den Dänen Claus Pedersen, im Achtelfinale. Zwei Jahre  später, im schwedischen Helsingborg, stand er im Halbfinale – wieder hieß der Gegner Pedersen. Und auch nach Budapest (Ungarn) 2019 ging es mit  dem Rad – am Ende freute er sich über Bronze im Einzel.

Im Juni 2018 hieß das Ziel wie 1977 Las Vegas – zu dem WM-Turnier, hatte sich Hürmann bereits im März in Hamm aufs Rad geschwungen. Die letzten 700 Kilometer von San Diego nach Las Vegas führten ihn bei extremer Hitze durch die Mojave-Wüste. Am Ende folgte eines der besten Turniere seiner  Karriere, bei dem er an der Seite von Gerd Werner (Ketsch am Rhein) Vizeweltmeister im Doppel wurde und Dritter im Einzel. Die Medaillen haben zuhause einen Ehrenplatz erhalten – so wie der Pokal aus dem Jahr 1977.