Über das Meer in die Freiheit Sy Hoang gehört zu den ersten Boatpeople, die in Deutschland eine Heimat fanden

Die Geschichte ist ein Wiederholungstäter.
Tausende verzweifelte Menschen versuchen derzeit, über das Mittelmeer das für sie sichere Europa zu erreichen. Täglich sterben Kinder, Frauen und Männer bei dieser Flucht. Ähnliche Bilder gingen vor 40 Jahren schon einmal um die Welt. Damals war es nicht das Mittelmeer, sondern das Süd-Chinesische Meer. Die Flüchtenden kamen aus Vietnam. Auch sie flohen vor Krieg, Terror und Verfolgung.
Die Bilder sind blass: ein Strohdach, ein kleiner Bach. Und dann das Boot in dunkler Nacht, viel zu viele Menschen sind an Bord. Lediglich an die Ohrfeige, die ihm sein Cousin verpasst hat, kann sich Sy Hoang noch klar erinnern. Ansonsten weiß der Bönener nur noch wenig von seiner Flucht über das Meer. 1979 war er erst vier Jahre alt und gehörte zu den ersten Boatpeople, die aus Vietnam nach Deutschland kamen. Sy Hoang gefällt sein Leben, wie er sagt. Er ist glücklich. Integration ist für ihn kein Thema, sie ist eine Tatsache. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern wohnt er in einem gemütlichen Reihenhaus in der Gemeinde, seit 13 Jahren arbeitet er als Ingenieur bei einem größeren Telekommunikationsunternehmen in Dortmund. Er hat Abitur, ein abgeschlossenes Studium. „Da sieht man doch, dass man es als Flüchtling zu etwas bringen kann“, sagt der 43-Jährige. Er erkennt die Parallelen zu den Menschen, die heute auf ebenso gefährliche Weise wie er über das Meer in ein friedlicheres Land kommen und dafür ihr Leben riskieren. Nur wenige kehren aus den Lagern zurück.
1975 wurde Sy Hoang geboren, in dem Jahr, als in seinem Herkunftsland ein schrecklicher Krieg endete. Frieden fanden die Menschen in Vietnam aber auch dann nicht. Sein Vater war Soldat. Er wurde nach Kriegsende von den kommunistischen Vietcong gefangen genommen und in ein Umerziehungslager gesteckt – wie Tausende seiner Landsleute. Nach einem Jahr kehrte er zu seiner Familie zurück, als einziger seiner ehemaligen Offiziersklasse. Für die Familie stand fest, dass sie nicht in Vietnam bleiben konnte. Zu groß war die Gefahr, dass der Vater erneut eingesperrt, gefoltert oder gar ermordet werden würde. Viel hatten sie nicht, ein kleines Haus, ein Feld. Dennoch kratzten die Eltern alles Hab und Gut zusammen, machten Schulden, um die Flucht für sich und fünf Kinder zu zahlen. Der älteste Sohn, damals zwölf Jahre alt, blieb zunächst bei Verwandten. Er kam ein Jahr später nach. Sy Hoangs Onkel war Fischer. Er hatte ein Boot und organisierte die Flucht. „Normalerweise passten da etwa 30 Menschen drauf, es waren aber mehr als 100“, weiß der 43-Jährige aus Erzählungen. Viele Kinder seien darunter gewesen. Im Hafen waren Patrouillenschiffe unterwegs. Die Besatzung suchte nach eben solchen Flüchtlingen, die sie dann zurück an Land brachten und einsperrten, bis Angehörige eine saftige Kaution für sie zahlten. Um den Fängern zu entgehen, mussten die Passagiere auf dem Fischerboot absolut still sein. Sy Hoang war zu jung, um die Lage zu begreifen. Er hatte Angst, war überfordert. „Also habe ich angefangen zu weinen und zu schreien“, erzählt er. Der kleine Junge ließ sich nicht beruhigen, bis sein Cousin ihm die noch immer präsente „Backpfeife“ versetzte. „Danach war ich dann still“, so Sy Hoang. Und das hat ihn und die anderen Menschen vermutlich gerettet. Die Fahrt über das Südchinesische Meer war brandgefährlich. Es wimmelte dort von Piraten, die die Flüchtlingsschiffe überfielen. Die Männer wurden getötet, die Frauen vergewaltigt und verkauft, die Kinder verschleppt. Das kleine Fischerboot blieb verschont. Dafür hätte ein Orkan der Flucht fast ein tödliches Ende bereitet. Im sprichwörtlich letzten Augenblick entdeckte die Besatzung eines französischen Frachters die Flüchtenden und rettete sie. Wenige Minuten später sank das Boot, an Bord war noch der Hund der Hoangs. „Er durfte nicht mit auf das Schiff, und so mussten wir mit ansehen, wie er ertrank“, erzählt der Bönener. Die Matrosen alarmierten das Hilfskomitee „Ein Schiff für Vietnam“ von Rupert Neudeck, der gerade mit seinen Mitstreitern in Singapur die „Cap Anamur“ für die Rettung der flüchtenden Vietnamesen vorbereitete. Sie holten die „Boatpeople“ mit dem Schiff ab und brachten sie in ein Lager nach Singapur. Von dort aus wurden sie nach Deutschland geflogen. Flüchtlinge wurden gut aufgenommen
Erste Station nach der Ankunft in Hamburg war für Familie Hoang das Auffanglager in Unna-Massen. Von dort aus ging es nach Wipperfürth im Oberbergischen Land, wo Sy Hoang schließlich aufwuchs. „Wir wurden total gut aufgenommen. Die Leute waren zuvorkommend, sehr nett. Der Bürgermeister hat uns unterstützt. Es war damals regelrecht ‘in’, sich um die ‚Boatpeople‘, zu kümmern.“ Diese „Willkommenskultur“ hat der gelungenen Integration der Vietnamesen letztendlich wohl den Weg geebnet. Die Hoangs lebten zunächst mit weiteren vietnamesischen Familien in einer Unterkunft, dann bekamen sie eine eigene Wohnung. Später baute Sy Hoangs Vater ein Haus für sich und die Familie. Er bekam eine Arbeitsstelle bei der Stadt Wipperfürth. Während sich Sy Hoang allerdings schnell in Deutschland einlebte, erst den Kindergarten, dann eine katholische Grundschule und ein Gymnasium besuchte, litten seine Eltern lange unter Heimweh. „Sie wollten unbedingt zurück nach Vietnam, auch wenn ihnen klar war, dass das nicht mehr ihre Heimat war. Erst im Alter sind sie tatsächlich dorthin gereist – als Urlauber.“ Er selbst war bis heute noch nicht wieder in seinem Geburtsland. „Als ich jung war, hatte ich Angst, dass ich dort verloren gehe und nicht nach Deutschland zurückkomme.“ Diese Angst hat der dreifache Vater abgelegt. „Irgendwann fliege ich mit meiner Familie hin.“ Er möchte seinen Kindern seine Wurzeln zeigen. Zwar leben wohl noch Verwandte in Vietnam, Kontakt hat er zu ihnen aber nicht. Dafür leben zwei Schwestern seiner Frau dort, bei denen sie eine Anlaufstelle hätten. Vor zehn Jahren zog Sy Hoang nach Bönen. Er ist längst deutscher Staatsbürger. Seine Frau, die ebenfalls aus Vietnam stammt, kocht noch typisch, die südostasiatische Tradition lebt er aber eher beim Neujahrsfest und bei Familientreffen als im Alltag. Wichtiger sind ihm die Werte, die seine Eltern ihm vermittelt haben: Höflichkeit etwa, Familiensinn oder den katholischen Glauben. Regelmäßig besucht der Bönener zum Beispiel den vietnamesisch-katholischen Kirchentag. Dabei hat sogar einmal eine Bekannte wiedergetroffen. „Sie war damals mit mir auf dem Boot und hat mich tatsächlich wiedererkannt“, erzählt er.
Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit, wie viele Flüchtlinge sie heute ertragen müssen, hat Sy Hoang nie erlebt. „Ich wurde von meinen Mitschülern und Freunden ganz normal behandelt“, sagt er. „Ich hatte eine schöne Kindheit.“ Auch seine Söhne und die Tochter wachsen „ganz normal“ in der Gemeinde auf. Sie besuchen das Marie-Curie-Gymnasium beziehungsweise die Grundschule in Bönen, spielen Instrumente und Tischtennis. Sie leben ein Leben in Freiheit und Frieden. Dafür haben die Hoangs seinerzeit ihr eigenes riskiert – auf einem kleinen Boot in dunkler Nacht.  Sabine Pinger